Ich freue mich sehr, Anna Baumann, Direktorin des Natur und Tierparks Goldau, als Gast-Autorin zu begrüssen. Sie verrät, warum es auch bei Wölfen Mobbing gibt und in welchen Momenten sie über die Sensitivität dieser Tiere staunt.
Nichts hat mich so sehr geprägt wie meine an Alzheimer erkrankte Mutter. Durch sie habe ich wieder gelernt, mit dem Herzen zu hören, mit dem Herzen zu arbeiten und zu führen. Hinzu kam meine Beziehung zu den Wölfen, welche mir immer wieder Wege aufzeigten, wenn ich das Gefühl hatte, vor unüberbrückbaren Hürden zu stehen. Vom Wolf als meine Lehrperson – davon möchte ich Ihnen heute etwas erzählen.
Die Geschichte der Beziehung zwischen dem Mensch und dem Wolf hat sich zwar weiter entwickelt, doch anstatt dass wir den Wolf schützen, rotten wir ihn wieder aus. Wenn einmal alle Tiere verschwunden sind, werden wir Menschen an geistiger Einsamkeit zugrunde gehen, denn was wir in der Natur ausrotten, merzen wir auch in unserer Seele aus. Ich bin überzeugt, dass wir jeden Schritt, welcher uns von der Natur entfernt, hart bezahlen müssen – entweder mit Verlust von Vitalität, Geborgenheit oder mit Verlust von Verständnis und Weisheit.
Begegnung mit Alphawolf
Ich beobachte die Wölfe, wie sie spielen, balgen und toben. Sie sind voller Kraft, jedoch immer elegant und geschmeidig, vorsichtig, bedächtig, aber zugleich kompromisslos und souverän. Jeder Blick, jede Bewegung hat eine Bedeutung. Diese lautlose Wolfsprache ist unglaublich vielfältig. So teilt mir der Wolf seine Emotionen, Stimmungen und Absichten mit einem ganz bestimmten Gesichtsausdruck oder Blick mit. Bei ihnen, wo ein respektvoller Umgang herrscht, fühle ich mich wohl. Der Alphawolf vertreibt sein Rudel, denn nur er möchte meine Streicheleinheiten entgegennehmen. Den anderen bleibt das verwehrt. Früher durfte auch das Alphaweibchen zu mir kommen, aber das ist seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Sie pirscht sich immer wieder von hinten an, er vertreibt sie und legt sich wieder vor mich hin, damit ich ihn am ganzen Körper kraulen kann.
In der Natur besteht ein Wolfsrudel aus zwei oder drei Generationen, meistens dem Alphawolf und der Alphawölfin sowie den Jungtieren. In der Wolfsfamilie sind die Rollen klar verteilt: das dominante geschlechtsreife Paar hat in der Hierarchie des Rudels automatisch die höchste Stellung. Jeder Wolf ist eine starke Persönlichkeit, jeder ist einzigartig, ein Individuum mit besonderen Stärken und Schwächen und einem ganz eigenen Charakter. Es ist gerade diese Unterschiedlichkeit im Rudel, welche eine perfekte Gemeinschaft bildet. Der eine Wolf kann vielleicht besser riechen und so schneller die Beute ausfindig machen. Ein anderer hat mehr Ausdauer und kann die Beute am längsten verfolgen. Ein dritter ist besonders erfahren in der Jagd und kann die Beute aus dem Hinterhalt überraschen. Es gibt neugierige, erfinderische, zurückhaltende, schüchterne oder draufgängerische Wölfe. Jeder ist ein Teil eines Puzzles. Nur gemeinsam mit allen ihren Schwächen und Stärken können sie eine überlebensfähige Gemeinschaft bilden, in der jedes Mitglied nach Hierarchie und Rangfolge seine Aufgaben hat. Auch Einzelnachwuchs, was die Ausnahme ist, wird in einem Wolfsrudel sozialisiert.
Fehler haben Konsequenzen
Die Rollen der Alphawölfe sind ganz klar verteilt. In der Regel pflanzen sich nur die ranghöchsten Tiere fort, dabei ist die Leitwölfin die zentrale Figur. Sie hält sich meist über Jahre an der Spitze. Der Alphawolf leitet das Rudel bei der Jagd an, er ist für den Zusammenhalt verantwortlich, die Alphawölfin ist für den Nachwuchs und die Erziehung der Jungtiere zuständig. Sie ist es, welche die Jungtiere auf das Leben vorbereiten muss. Die Jungwölfe lernen systematisch durch beobachten und bilden bereits eine erste Rangordnung. Nach dem ersten Lebensjahr werden sie in die Jagd integriert und Fehler haben Konsequenzen. Verhält sich ein Tier im Erwachsenenalter fehlerhaft, kann es das ganze Rudel gefährden. Das heisst, dass die Jagderfolge ausbleiben können, das Futter fehlt und das Rudel geschwächt wird. Dann wird dieses Tier aus dem Rudel gejagt und muss sich selbst behelfen. Entweder findet es in einem anderen Rudel Anschluss, was äusserst selten der Fall ist, oder es findet Anschluss bei anderen Einzeltieren – oder es stirbt, weil es alleine zu wenig Futter findet. Die Natur ist hier unbarmherzig. Wenn ich allerdings unsere Gesellschaft anschaue, gibt es hier ähnliche Parallelen. Am Schluss gibt es noch den sozialen Auffang, allerdings nur monetär. Oft vereinsamen diese Leute, weil sie gesellschaftlich nicht mehr integriert sind.
Armer Sündenbock
Und ja, Mobbing gibt es bei den Wölfen natürlich auch. Das schwächste Tier, das Omega-Tier ist immer der Sündenbock. Aus reinem Überlebenstrieb hat das Omega-Tier jedoch ein grosses Interesse daran im Rudel zu bleiben. So lässt und muss es sich relativ viel gefallen lassen.
Die Grundbedürfnisse der Wölfe sind allesamt die gleichen. Primär ist da ihr Familiensinn resp. das Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie brauchen zweitens die Freiheit. Sie unterliegen zwar der Hierarchie der Gruppe, haben aber trotzdem die Möglichkeit, als Individuum Entscheide zu treffen. Drittens haben sie das Bedürfnis nach Ankerkennung und durch die anderen Rudelmitglieder bestätigt zu werden. Und viertens das Spiel. Dadurch werden Spannungen abgebaut, der Zusammenhalt gefestigt und die Jungtiere lernen spielend das Wichtigste für das Leben.
In den heutigen Organisation gibt es zum Glück bereits viele weibliche Führungskräfte. Solange wir Frauen keine besseren Alphamännchen sein wollen, geht das prima. Wir müssen aber auch bereit sein, die Regeln der Führung anzunehmen und nicht unsere eigenen Regeln zu machen. Sonst gefährden wir das soziale System einer Organisation Seit ca. 100‘000 Jahren passt sich der Wolf den unterschiedlichsten Umweltbedingungen an, er ist nicht nur anpassungsfähig sondern auch lernfähig. Erfahrungen werden an nachfolgende Generationen weitergegeben.
Zähnefletschen und Knurren
Im Umgang mit Tieren haben Zeitnot, Ungeduld, Hast und Unvorsichtigkeit keinen Platz. Genauso wie bei Ihnen an Ihrem Arbeitsplatz. Bei den Wölfen ernte ich dafür vorwurfsvolle Blicke oder im schlimmsten Fall gar Zähnefletschen und Knurren. Das Vertrauen bei den Wölfen muss man sich erarbeiten. Wenn ich manchmal mit schwierigen Leuten Verhandlungen aufnehmen möchte, ich jedoch ein komisches Gefühl habe, mache ich üblicherweise zuerst eine Führung durch den Natur- und Tierpark Goldau. Dann gehe ich mit dieser Person an das Gehege zum Alphawolf. Ich sehe sofort aus dem Blick, dem Knurren, seinem Ausdruck, dass das wohl kein guter Geschäftspartner wird. Im anderen Fall reagiert der Wolf ganz anders mit Freude und am liebsten möchte er diese Person lecken. Diese Sensitivität ist für mich jedes Mal wie ein Wunder.
Ich möchte Ihnen ein paar fundamentale Überlebensweisheiten der Wölfe mit auf Ihren Lebensweg geben:
– Beobachten und die Situation richtig einschätzen. Vor jeder Jagd wird genau geschaut und analysiert und erst dann wird zur Jagd aufgebrochen.
– Respekt vor allem, vor Ihrem Gegenüber, vor der Natur, vor den Hilfsmitteln. Das geht ganz einfach, indem man sich selber fragt: wie möchte ich behandelt werden?
– Nachsicht gegenüber allem. Denn habe ich das verzeihende Verständnis für die Unvollkommenheit der Mitmenschen oder für eine situationsbedingte Schwäche einer Person nicht, kann ich von niemandem auf der Welt verlangen, und schon gar nicht von Kindern, dass sie dies gegenüber mir aufbringen können.
– Vertrauen schenken. Ich bin überzeugt von der Person gegenüber, dass er oder sie mir gegenüber die Wahrheit sagt, das Richtige tut oder sich so verhält, wie ich es als gut einstufe.
Ich ermuntere Sie, Ihre Kinder mit ins Wolfsrudel aufzunehmen und sich entwickeln zu lassen. Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen viel Freude, Gelassenheit und eine grosse Portion emotionale Intelligenz.