Neulich ist es wieder passiert. Ich mag diese Momente nicht. Wieso sind wir Menschen bloss so kompliziert, blockiert? Warum müssen wir immer alles im Griff und unter Kontrolle haben?
Ich war bei einer Freundin. Sie erzählte mir von einer Verwandten, die an Krebs leidet. Krebs im Endstadium. Schlimmste Schmerzen plagten sie. Sie schrie im Bett, litt unter Höllenqualen. Meine Freundin sagte, wie hilflos sie sich dabei fühlte. Sie konnte nichts für ihre Verwandte tun. Nur zusehen und aushalten. Für sie da sein. Und warten, bis der Tod sie befreien würde.
Solche Erzählungen gehen mir nahe. Ich kriegte Gänsehaut, kämpfte mit den Tränen. Auch meine Freundin verkniff es sich, ihre Gefühle zu zeigen. Für einen Augenblick sassen wir schweigend da.
Warum nur?
Später, auf dem Weg nach Hause, fragte ich mich: Warum eigentlich? Wieso wollen wir bloss immer stark sein? Woher kommt dieses extreme Bedürfnis nach Selbstkontrolle? Warum wehren wir uns gegen etwas, das natürlich ist?
Schon Hippokrates und Aristoteles sprachen von der „Katharsis-Theorie des Weinens“, die Psychoanalyse übernahm später diese Theorie: Demnach bewirken Tränen eine psychische Reinigung. Dem stimme ich zu.
Weinen kann sehr befreiend und heilsam sein. Das habe ich viele Male erlebt. Ich stellte dabei fest, dass ich meine Trauer um liebe Menschen viel besser und einfacher verarbeite, wenn ich zu all meinen verschiedenen Gefühlen stehe. Auch Wut gehörte dazu. Ich erlaubte mir, sauer zu sein. Auf die ganze Welt. Auf das Universum. Das half mir im Trauerprozess. Ich hinterfragte nichts, liess es einfach geschehen. Ich schämte mich nicht.
So ein Schwachsinn!
Und genau hier, so denke ich, liegt das Problem unserer Gesellschaft. Wir halten uns an irgendwelche Normen. Glauben, einem Bild entsprechen zu müssen. Spielen ein Theater, das oft sinnlos und wenig hilfreich ist. Machen uns vor, stark zu sein, während es in unserem Innern brodelt. Was für ein Schwachsinn!
„Ich habe gelernt, Leid zu ertragen, Schmerzen zu verbergen und mit Tränen in den Augen zu lachen. Nur um den Anderen zu zeigen, dass es mir gut geht.“ Diesen Spruch las ich heute auf Facebook. 6 Personen gefiel das. Mir nicht.
Ich weiss mittlerweile, was mit Menschen passiert, die sich wie Maschinen verhalten. Viele Personen, die sich nicht mehr erlauben, ihre Gefühle zu zeigen, werden früher oder später krank. Viele dieser Menschen behandle ich in meiner Praxis. Oft weinen sie, bevor wir über ihr Problem reden. Manchmal nehmen Sie Platz und werden zugleich von ihren Gefühlen überwältigt. Wunderbar, finde ich. So kann sich etwas lösen. Und fast immer folgt darauf Erleichterung.
„Vor 10 Jahren geweint“
Manchmal gestehen mir Patienten, dass sie sich schon seit vielen Jahren nicht mehr spüren. Zu fest haben sie sich abgeschottet, hinter jeglichen Emotionen verbarrikadiert. Mit der Zeit wird die Gewohnheit zur Pflicht und die Pflicht zum Gefängnis. „Ich habe das letzte Mal vor über 10 Jahren geweint“, erklärte mir ein Patient kürzlich. „Dann ist es höchste Zeit, dass wir diese Mauer durchbrechen“, erwiderte ich. Der Mann lachte und meinte: „Das schaffen Sie nicht.“ Ich hatte nicht mal die Absicht, ihn während der Hypnose zu seinen Gefühlen, die unter der harten Schale lauerten, zu motivieren. Es geschah einfach. Weil er in Trance seinem inneren Kind begegnete. Und Kinder sind glücklicherweise locker, unbeschwerter und vor allem natürlicher als wir Erwachsenen.
Bei Männern rollen die Tränen angeblich bis zu 17 Mal im Jahr, bei Frauen bis zu 64 Mal. Dies mindestens haben Augenärzte der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft ermittelt. Stimmen diese Zahlen, bin ich dann wohl doch mehr Mann als Frau. Na und?! Machen wir kein Drama, wo keines existiert.
Wie ist das bei Ihnen? Fühlen Sie noch? Oder sind Sie bereits mehr Roboter als Mensch?
Ich lade Sie dazu ein, Ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Getrauen Sie sich, echt und authentisch zu sein. Gewöhnen Sie sich die Härte und Selbstdisziplin wieder ab. Wieso nicht mal im Wald schreien und brüllen? Oder dem Ärger im Bauch Raum geben, ausbrechen lassen? Und natürlich weinen, schluchzen, heulen, wenn es gerade zu unserer Stimmung passt. Wir alle fühlen doch letztlich viel mehr, als dass wir uns und anderen Menschen zugestehen. Warum also diese Shows und das ganze Theater? Haben wir das wirklich nötig?
