Liebe Jacqueline, viele Menschen mussten Dich loslassen. Vor 5 Monaten bist Du gegangen. Damals, bei unserem Abschied, spürten wir beide, dass Deine Zeit gekommen war. Wir konnten offen darüber reden. Ich bat Dich, uns im Bisisthal zu besuchen, wenn Du es auf die andere Seite geschafft hast. Ich sagte Dir, dass Du bei uns jederzeit willkommen bist. Dass ich nicht weinen, sondern mich für Dich freuen würde, wenn Du von Deinen Schmerzen erlöst sein würdest. Du gabst mir Dein Versprechen, dass Du vorbei kommen würdest.

An diesem letzten Treffen habe ich unsere Tochter zu Dir ins Spital gebracht. Du hast sie sofort so wahrgenommen, wie sie ist. Für mich war das ein spezieller Moment. Sie, die voller Leben war, und Du, deren Lebenslicht immer mehr erlosch. Sie krabbelte auf Deiner Bettdecke herum. Du hattest grosse Freude. Sie schrie, wenn es ihr langweilig war. Du lachtest.

„Ich bin bereit“
Du erzähltest ein letztes Mal von Deinem Leben. Den schönen wie traurigen Momenten. Von Deinen Erfahrungen und Erkenntnissen. Du gabst mir zu verstehen, dass Du bereit für den Tod warst. Diese Worte kamen ohne Reue, ohne Angst. Dafür bewundere ich Dich, Jacqueline.

Und jetzt, wo Du fort bist, will unsere Tochter oft nach dem Foto von Dir greifen. Es ist das einzige Foto, das an der Wand in meinem Schlafzimmer hängt. Du hast diesen besonderen Platz bekommen, weil Du für mich ein spezieller Mensch bist. Ich habe Dich bei unserem ersten Treffen sofort in mein Herz geschlossen. Es war, als ob ich Dich schon immer gekannt hätte. Auch wenn es für mich stimmt, dass Du gegangen bist, frage ich mich manchmal, wie sich unsere Freundschaft weiter entwickelt hätte, wenn Du geblieben wärst. Was hätten wir wohl alles angestellt!

In Verbindung bleiben
Dann höre ich jeweils eine leise Stimme. Sie macht mich darauf aufmerksam, dass der Tod keineswegs bedeuten muss, dass wir nicht in Verbindung bleiben können. Und darum rede ich mit Dir. Ich teile Dir mit, was ich denke und fühle. Weil ich weiss, dass Du da bist. Weil mir klar ist, dass ich gehört und verstanden werde.

Natürlich hieltest Du Dein Versprechen. Zwei Tage nach Deinem Tod kamst Du nachts in meinen Träumen vorbei. Du strahltest und sagtest, dass es Dir gut gehe. Am Morgen beim Aufwachen war der Traum noch so präsent. Ich war sehr glücklich und dankbar über Deinen Besuch und Deine Botschaft.

Wenn es Zeit ist: loslassen
Ich habe viel von Dir gelernt. Beeindruckt hat mich neben vielem anderen, dass du zwar wie eine Löwin gekämpft hast, jedoch in dem Moment, wo Du spürtest, dass der Kampf zwecklos wurde, weise genug warst, loszulassen und Dich Deinem Schicksal zu ergeben. Das können nur wenige Menschen.

Viele von uns haben Mühe mit loslassen. Sie kommen in die Hypnose, weil sie sich an Menschen, Situationen oder Gedanken festhalten. Sie wissen, dass es an der Zeit für eine Veränderung wäre, doch irgendwie können sie das Alte, Bewährte einfach nicht loslassen. Vielleicht, weil das Neue Mut erfordert. Möglicherweise, weil ein Schritt in eine neue Richtung Angst macht. Weil wir unsere Komfortzone verlasen müssen.

Auch ich habe mich wieder einmal für’s Loslassen entschieden. Ich habe mein Teilzeitpensum bei der Zeitung gekündigt. Das war kein schwieriger Entscheid. Ich habe auf mein Herz gehört – im Wissen, dass ich das Schreiben trotzdem behalten darf. Mich mehr solchen Texten widmen kann.

„Schreibst Du nicht mehr?“
Ich wurde in den letzten Monaten sehr oft gefragt, wann ich denn wieder für Zeitungen schreiben würde. „Arbeitest Du nicht mehr?“ fragten sie. „Ich las schon lange nichts mehr von Dir“ meinten andere. Ich finde es seltsam, dass die Arbeit in vielen Köpfen so extrem wichtig ist. Dass sich so viele Menschen über die Arbeit definieren. Dass die Vorstellung existiert, wir müssten viel leisten oder wenigstens viel Geld haben, um glücklich zu sein. Als ob es im Leben nichts anderes als unsere Jobs und Batzeli geben würde! Als ob wir Eltern nur halbe Menschen in unserer Leistungsgesellschaft wären!

Liebe Menschen, habt ihr einmal darüber nachgedacht, dass wir nicht alle 80 oder 100 Jahre alt werden? Dass unsere Zeit hier begrenzt ist und dass das Leben jederzeit abrupt beendet werden kann? Vielleicht mit einer Krankheit, wie bei Jacqueline, möglicherweise mit einem Unfall oder einem anderen, unerwarteten Schicksal. Ist euch klar, dass wir, wenn wir die Erde verlassen, keine Zeugnisse, Diplome, Leistungsausweise oder Tausendernoten mit uns nehmen können? Dass uns dann aber zum Glück die Erinnerungen und Erfahrungen bleiben? Darum ist für mich weniger oft mehr.

Präsent sein
Du, liebe Jacqueline, weisst genau, wovon ich schreibe. Du hast in den letzten Jahren Deines Lebens gelernt, präsent zu sein. Dies betontest Du in unseren Gesprächen immer wieder. Du sagtest, dass Du nicht verstehen würdest, warum viele Menschen so gestresst seien und irgendetwas hinterher jagen würden. Sie sollten doch einfach ihr Leben geniessen und dankbar sein, dass sie gesund seien.

Es war für mich ein Privileg, Deinen Weg ein Stück weit mit Dir gehen zu dürfen. Danke für all die wunderbaren Momente, die Du mit mir geteilt hast. Ich weiss und spüre, dass Du ab und zu bei uns bist. Vielleicht dann, wenn unsere Tochter ihre kleinen Hände Richtung Fenster ausstreckt und lächelt. Denn dies macht sie nur, wenn sie mit jemandem Kontakt haben möchte.