Spaziergänge bei minus 24 Grad oder eine über 1.60 Meter hohe Schneemauer vor dem Haus: So kann sich der Winter im Bisisthal präsentieren. Umweltpsychologen behaupten, dass Schnee auch zu Depressionen führen könne.

Neugierig strecken wir unsere Köpfe aus den Fenstern. Wie kleine Kinder staunen wir über die kalte Wolkenwatte. Endlich! Schnee! Am frühen Morgen des 6. Novembers fiel bei uns in Bisisthal der erste Schnee im Winterhalbjahr 2016/2017. Und mit ihm kommen auch die besonderen Momente: Stille, die in unserer lauten Welt kaum noch existiert. Ein Hauch Magie. Ein Stück Glück. Und natürlich: Freude!

Schnee und Sensibilität
Regen macht Lärm, Schnee fällt leise. Flocke um Flocke landet auf dem nassen Boden. Der Schnee schenkt uns eine Pause. Er erfrischt die Berge mit einem Glanz. Er gibt der Nacht einen hellen Mantel und verzaubert unsere Seelen. Umweltpsychologen behaupten: Wer Schnee liebe, sei besonders sensibel und reagiere auch auf andere Naturereignisse emotional. Wer dagegen Schnee hasse, leide oft an unbewussten Ängsten und falle im Winter teilweise in Depressionen. Das kann durchaus sein. Sonnenuntergänge lassen mich ziemlich kalt. Schnee jedoch wärmt mich innerlich – trotz Kälte.

Kein Wunder also, sind mein Lebenspartner und ich vor 7 Jahren nach Bisisthal umgezogen. Nur noch knapp 80 Personen leben hier – dafür ein Vielfaches an Kühen und Rindern. In der Abgeschiedenheit gibt die Natur gibt den Takt vor, wir folgen ihrem Rhythmus. Es ist faszinierend, ihr so nahe zu sein. Sie hautnah zu spüren. Und doch ist es niemals eine Begegnung auf Augenhöhe. Weil sie immer die Stärkere ist.

Lawinengefahr
Das Bisistal gehört zu den gefährlichsten Lawinen-Regionen des Kantons Schwyz. Gewaltige Schneemassen verschütteten schon zahlreiche Strassen und Wiesen. Die Aufnahme von Walter Imhof aus dem Jahre 1981 zeigt die tonnenschwere Schneedecke nach einem Lawinenniedergang im Sahli ob Bisisthal. Dass die Strasse nach Muotathal bei prekären Schneeverhältnissen gesperrt wird, müssen die Einheimischen in Kauf nehmen. Darum  lagert in unserem Keller ein kleiner Vorrat an Lebensmitteln. In den letzten 7 Jahren gab es aber nur eine Strassensperrung. Wir denken gerne daran. Es war mitten während der Fasnacht, als wir von der Gemeinde darüber informiert wurden.

Verzicht?Ja!
Der Schnee ist keine Last für uns, wie viele Städter meinen, sondern ein Geschenk des Himmels! Im tiefen Winter wird es bei uns noch stiller, einsamer und romantischer. Dass das ein Privileg ist, verstehen viele Menschen nicht. Sie sprechen von „harten Wintern“ und bedauern uns, wo wir doch genau diese enge Verbindung zur Natur suchten. Sie fokussieren sich auf die Gefahren und vergessen die Schönheiten. Viele glauben auch, wir müssten „dort hinten“ auf etwas verzichten. Richtig. Es ist ein freiwilliger Verzicht auf Lärm, Hektik, Konsum und Bequemlichkeit.

Im Kachelofen knistert das brennende Holz. Draussen schneit es immer heftiger. Mit dem Winter verbinden wir unzählige, eindrückliche und spannende Erlebnisse: Spaziergänge bei Minus 24 Grad Celsius oder eine über 1.60 Meter hohe Schneemauer vor dem Haus. Faszinierende Begegnungen mit Wildtieren, zauberhafte Winterlandschaften und abenteuerliche Fahrten auf der Strasse. Nach der Rückkehr von einer Reise in Südamerika war es in unserem alten Holzhaus minus 2 Grad kalt.

Eine unvergessliche Nacht
Eine Nacht bleibt mir besonders in Erinnerung: Nach einem Seminar in Zürich kam ich erst kurz vor 23 Uhr zurück. Es schneite intensiv. Die dunkle, schwarze Nacht frass das Licht der Scheinwerfer wie ein hungriges Monster. Bei einem steilen Strassenabschnitt passierte es: Ich blieb mit meinem Auto im Schnee stecken, konnte weder vorwärts noch rückwärts fahren. Ausgerechnet an diesem Abend hatte ich mein Handy zu Hause vergessen! So kämpfte ich mich durch den Schnee und holte daheim Verstärkung. Mit Schaufeln und Taschenlampen ausgerüstet buddelten wir mein Auto wieder aus. Doch wir mussten es abseits der Strasse stehen lassen, weil es sich nicht mehr vom Fleck bewegte. Zu viel Schnee bedeckte die Strasse. Beim anderen Auto mussten wir Schneeketten montieren.

Schnee ist auch unter der Lupe faszinierend. Keine Schneeflocke gleicht der anderen, jede hat ihre eigene Lebensgeschichte. Auch unsere Geschichte hat mit einem neuen Kapitel begonnen: Als Eltern dürfen wir unsere Faszination für den weissen Winter heuer zum ersten Mal mit unserer einjährigen Tochter teilen. Wir wären bereit, Schnee!

Dieser Text ist im Magazin Zeitpunkt erschienen.