Modesto weint hemmungslos. Es ist das Weinen eines verzweifelten Mannes, Schlimmes muss ihm widerfahren sein! Dies ist eine wahre Geschichte von einer Begegnung, die ich nie mehr vergessen werde.

Modesto, der 68-jährige Argentinier, sitzt auf der Busfahrt von Bolivien nach Argentinien neben mir. Sein Weinen macht mich traurig. Wir kennen uns nicht, nie zuvor haben wir uns gesehen. Als er sich beruhigt hat, vertraut er mir seine Geschichte an:

„Man hat mich überfallen! Man hat mir alles genommen!“ erzählt er mir schluchzend. Sein Schock sitzt tief. „Was mache ich nur? Ich habe überhaupt kein Geld mehr! Ich muss doch zu meiner Frau nach Jujuy! Ich besitze nicht einmal mehr das nötige Geld, um sie anzurufen!“

Zufälle, so denke ich, gibt es nicht. Eigentlich wollte ich mit einem anderen Bus nach Argentinien fahren. Doch weil ich die einzige Passagierin war, hatte man mich umgebucht. Und jetzt sitzen der traurige Argentinier und ich nebeneinander, das Schicksal hat uns zusammen geführt.

Für mich ist klar: Ich werde diesem Mann helfen. Ich gebe ihm ein Taschentuch und tröste ihn. „Wir werden eine Lösung finden. Ich lade Sie beim nächsten Halt zum Essen ein, danach sehen wir weiter.“ Modesto schaut mich mit grossen Augen an. Er umarmt mich, und beginnt erneut zu weinen. Nie zuvor sei ihm so etwas passiert! Seine Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Und so kommt es, dass der Argentinier und ich in einer kleinen Kneipe gemeinsam zu Abend essen. Betrunkene Männer, die uns beobachten, machen sich über uns lustig. „Der Opa und die Puppe, was für ein Paar!“ heisst es etwa.

Eine Stunde später fahren wir weiter. Modesto schläft sofort ein, ich finde keine Ruhe. Wir fahren stundenlang über Geröllstrassen. Der Bus wackelt, der Motor rumpelt. Es ist bitterkalt. Eine lange Nacht, in der ich über das Privileg, Schweizerin zu sein, und vieles Andere nachdenke. 

Um 6 Uhr früh erreichen wir den Grenzort Villazon, die Grenze ist noch geschlossen. Ich fühle mich, als hätte ich einen schlimmen Kater. Modesto zeigt mir, wo wir heissen Kaffee kriegen. Wieder werden wir kritisch beäugt. Modesto und ich schweigen. Ich geniesse diesen Moment. Oft im Leben ist es so einfach, fremden Menschen nahe zu sein. Grenzen und Hindernisse existieren nur in unseren Köpfen. Unsere Herzen kennen solche Barrikaden nicht.

Als die Grenzpolizei auftaucht, drücke ich Modesto das Geld für sein Busticket und für ein weiteres Essen in die Hand. Er packt meine Hände, schaut mich an. Nie werde ich seinen Blick vergessen. Unsere Wege trennen sich, Modesto macht sich auf den Weg zu seiner Frau.

Wir können oft mit wenig helfen. Es muss nicht immer Geld sein, es kann auch eine Umarmung, ein Anruf, ein selbst gebackener Kuchen oder eine geschriebene Karte sein.

Bald ist Weihnachten. Vielleicht können wir den Menschen Gutes tun, denen es weniger gut als uns geht.

Hinweis: Weitere Geschichten von meinen Reisen folgen.